Ausgangssituation
Wir wohnten noch nicht lange am neuen Ort. Nach einer grossen und langen Kälteperiode kam der Frühling relativ schnell und es war plötzlich recht warm. Es war noch nicht lange her, dass mein Arzt festgestellt hatte, dass ich im dritten Monat schwanger war. Ich war unglaublich glücklich über diese dritte Schwangerschaft. Ich drückte das auch lautstark aus.
Wie es bei vielen Frauen so üblich war, bin auch ich irgendwann dem Frühlings - Putzwahn verfallen. Ich drehte die Musik aus dem Radio voll auf, sodass das ganze Haus erfüllt war von Liebesliedern und Schlagermusik.
Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass meine kleine vierjährige Tochter Julia nicht mehr da war. Normalerweise meldete sie sich relativ schnell, wenn ich so laut war. Sie fühlte sich gestört und tat dies auch mit klaren Worten kund. Doch heute fehlte das - sie war nicht da.
Kinder suchen Lösungen
Das machte mich stutzig. Ich drehte die Musik leiser und suchte im ganzen Haus nach Julia. Das Kinderzimmer - leer, unser Schlafzimmer - leer, das Büro - leer. Mir wurde mulmig. Ich trat vor die Haustüre und da sah ich sie: Sommerlich gekleidet sass sie mitten auf der Strasse auf ihrem kleinen Stuhl. Wir wohnten am Ende einer Sackgasse. Sie hatte ein Buch in der Hand und winkte mir zu.
Ich ging zu ihr hin und fragte sie, was sie denn da mache. “Ach, weisst du Mami, du warst so laut und hast laut mitgesungen. Ausserdem hast du geputzt. Ich wollte meine Ruhe haben. So bin ich halt auf die Strasse “gezügelt” (gezogen). Da ist es ruhig und schön, und ich werde nicht gestört. Ich werde noch ein bisschen hier bleiben”. So sprach sie und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Meine Gedanken
Julia war recht eigenständig. Sie suchte sich schon früh selbst Lösungen für ihre Herausforderungen. Ihre Ideen waren kreativ, ja manchmal sogar ungewöhnlich. Sie wählte Möglichkeiten, bei denen sie ihre Ziele möglichst unkompliziert erreichen konnte. Auch heute gehört Julia mit ihren über 40 Jahren zu den lösungsorientierten Menschen. Es gelingt ihr, in allen Situationen das Positive zu finden und auch umzusetzen.
Hochsensible Kinder brauchen mehr Ruhepausen
Als Lehrerin machte ich die Erfahrung, dass vor allem hochsensible Kinder auf äussere Reize schnell ansprechen - im Positiven wie auch im Negativen. Durch ihr intensives Erleben werden sie schnell müde und brauchen mehr Ruhephasen als andere Kinder. Wenn der Körper müde ist und sich von der Situation her nicht entspannen darf, wird er unruhig. Das Kind versucht, sich durch Bewegung und Umtrieb wach zu halten. In der Schule zeigt sich das, indem diese Kinder beginnen, andere zu stören, sie schwatzen, sie werden unruhig. Diese Kinder bräuchten in solchen Situationen einen “Powernap”, um sich schnell wieder konzentrieren zu können.
Julia fand für sich eine gute Lösung. Ihr wurde mein lauter Umtrieb zu viel. Meine Musik war ihr zu laut und meine Putzerei ging ihr auf die Nerven. Also suchte sie eine Lösung, die ihr weder Streit noch andere Unannehmlichkeiten einbrachte. Sie entschloss sich, sich zurück zu ziehen und auf die Strasse auszuweichen. Wir wohnten am Ende einer Sackgasse und die Kinder spielten oft dort. Die Anwohner waren sich gewöhnt, Rücksicht zu nehmen. So war diese Lösung auch nicht gefährlich.
Hochsensible Kinder wissen, was sie brauchen
Hochsensible Kinder wissen instinktiv, was sie brauchen, um sich wohlzufühlen. Julia wusste schon als kleines Kind, was sie brauchte, damit es ihr wieder gut ging - Ruhe und Abstand von der lauten und hektischen Umgebung. Ihr Rückzug auf die Strasse macht die Bedeutung der Selbstfürsorge deutlich. Diese Fähigkeit ist wichtig für hochsensible Menschen, die oft von ihrer Umwelt überwältigt werden. Julias Geschichte kann für Eltern von hochsensiblen Kindern wichtig sein, wenn es darum geht, den Kindern zu helfen, selbstständig Ruhezonen zu finden. Es ist wichtig, dass Kinder lernen, auf ihre Bedürfnisse zu hören. Dies stärkt ihr Selbstvertrauen und senkt das Entstehen von Stresssituationen. Das Verhalten von Julia kann für Eltern und Lehrpersonen ein wichtiger Hinweis darauf sein, wie sie hochsensible Kinder im Alltag unterstützen können.
Praktische Tipps für Eltern und Lehrpersonen
Beobachten und Verstehen: Achten Sie auf die Signale Ihres Kindes. Diese können je nach Kind und Situation verschieden sein. Oft sind es Zeichen des Rückzugs oder erhöhte Reizbarkeit. Hochsensible Kinder zeigen oft durch ihr Verhalten, was sie brauchen, damit sie sich wohlfühlen.
Kommunikation und Verständnis: Ermutigen Sie Ihr Kind, offen über seine Gefühle und Bedürfnisse zu reden. Dies stärkt das Selbstbewusstsein und hilft, Missverständnisse zu vermeiden. Sie verstehen dann auch besser, was Ihr Kind braucht und wie Sie es unterstützen können.
Schaffen Sie Rückzugsräume: Ermöglichen Sie Ihrem Kind den Zugang zu einem eigenen Rückzugsort, an dem es sich entspannen und erholen kann. Dies kann ein Plätzchen im Garten, eine “Hütte” aus Decken oder das eigene Bett sein. In der Schule hatte ich ein Sofa und die Leseecke, wohin sich die Kinder zurückziehen konnten.
Respektieren Sie die Grenzen Ihres Kindes: Wenn Ihr Kind sich zurückziehen möchte, respektieren Sie seinen Wunsch und ermutigen Sie es. So lernt das Kind, seine Grenzen zu setzen und diese auch zu verteidigen. Sein Selbstbewusstsein wird dadurch gestärkt.
Fördern Sie die Selbstständigkeit: Unterstützen Sie Ihr Kind darin, selbst Lösungen für seine Probleme zu finden. Dies fördert sowohl die Selbstständigkeit als auch das Problemlösungsvermögen.
Führen Sie Rituale ein und geben Sie Strukturen: Feste Abläufe geben hochsensiblen Kindern Sicherheit und können helfen, Stress zu reduzieren. Planen Sie regelmässige Ruhezeiten ein, besonders in Phasen von hoher Aktivität oder emotionaler Belastung.
Die Bedeutung von Umgebungsanpassungen
Die Anpassung der häuslichen Umgebung kann ebenfalls eine Rolle spielen. Reduzierung von Lärm, sanfte Beleuchtung und ein aufgeräumter harmonischer Wohnraum können dazu beitragen, das allgemeine Stressniveau zu senken. In Julias Situation hätte es wahrscheinlich geholfen, sich vorher über den Lautstärkepegel während der Putzaktion abzusprechen. So hätte sie sich vielleicht nicht zurückziehen müssen.
Wenn hochsensible Kinder lernen, ihre Umgebung so zu gestalten, dass sie ihr volles Potential entfalten können, dann lernen sie auch sehr viel über ihre eigene Persönlichkeit. Das hilft ihnen in der Schule, in Freundschaften und später auch im Berufsleben. Dass Julia ihre hochsensiblen Fähigkeiten auch im Erwachsenenalter bewusst einsetzen kann, zeigt, wie wertvoll diese früh erlernten Fähigkeiten sind.
Abschliessend
Entwicklung von Coping-Strategien
Julias Geschichte zeigt, wie prägend die Kindheit für die Entwicklung von “Coping-Strategien” (Beobachter), (Wikipedia) sein kann. Eltern eines hochsensiblen Kindes haben die Möglichkeit, dieses auf ein erfolgreiches Leben vorzubereiten, indem sie es gezielt fördern und in seiner individuellen Art verstehen und unterstützen. Es ist entscheidend. dass die Kinder Werkzeuge in die Hand bekommen, mit denen sie ihre Welt so gestalten können, dass sie sich sicher und verstanden fühlen. Dabei spielen Eltern und Lehrpersonen eine zentrale Rolle. Sie sind diejenigen, die den Kindern helfen, ihre Grenzen zu erkennen. Sie fördern ihre Stärken und bestärken sie in ihrem Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug. Diese Kinder können zu selbstsicheren und selbstbewussten Erwachsenen heranwachsen, indem wir sie in ihrer besonderen Sensibilität unterstützen.