Loslassen heisst nicht verlieren
2025 war für mich ein Jahr des bewussten Loslassens. Nicht im Sinne von Aufgeben, sondern als Einladung, genauer hinzuschauen: Was trägt mich noch – was darf gehen?
Beim Schreiben dieses Jahresrückblicks wurde mir bewusst, wie sehr sich mein Umgang mit Zeit, Erinnerungen und Momenten verändert hat. Ich lebe heute viel stärker im Jetzt. Wenn Menschen um mich sind, wenn wir gemeinsam feiern, essen, reden oder lachen, bin ich ganz da. Ich denke nicht daran, Fotos zu machen. Die Erinnerungen setzen sich nicht auf einer Speicherkarte fest, sondern in meinem Herzen. Beim Sichten der Fotos wurde mir nicht warm ums Herz, sondern eng in der Brust.
Als ich die Bilder für diesen Artikel zusammensuchte, merkte ich, wie viele Begegnungen dieses Jahr getragen haben: Ostern und Weihnachten mit vielen Menschen, Nationalfeiertag, Familienfest, Klassentreffen, lange Tafeln, Buffets im Atelier, Gespräche, die geblieben sind. Ich habe zwei Weihnachtsfenster übernommen, damit der Anlass überhaupt stattfinden konnte. All das war schön – und gleichzeitig auch viel.
Vielleicht ist genau das ein Zeichen dieses Jahres: Ich habe gelernt, nicht alles festhalten zu müssen. Nicht jedes Erlebnis braucht ein Bild. Manche Dinge verlieren nichts, wenn man sie loslässt – sie bleiben trotzdem.
Dieser Rückblick ist deshalb kein lückenloses Archiv, sondern eine Sammlung von Momenten, die mich berührt, verändert und weitergeführt haben. Und vielleicht ist das die ehrlichste Form des Erinnerns.
1. Raum schaffen - Mein neues Atelier
Im September wurde mein neues Atelier von der Baukommission abgenommen. Ein alter Stall, der kurz vor dem Zerfall stand, durfte zu neuem Leben erwachen.
Ein befreundeter Zimmermann, der es versteht, alten Bauernhäusern ihre Seele zu lassen, begleitete den Umbau mit viel Gespür. So konnte ich im Herbst mein Atelier beziehen.
Endlich haben meine Filzutensilien wieder ihren Platz. Meine Zwerge „wohnen“ nicht mehr in Kisten, und meine Zeichnungen entstehen nicht länger am Küchentisch. Dieser Raum bedeutet für mich mehr als nur ein Atelier – er ist Ausdruck eines inneren Aufräumens.

2. Familie als Anker und Kraftquelle
Mitte Mai, bei der Planung des neuen Familienfestes, überwand ich meine Scheu und machte meiner Kusine, die ich noch nie gesehen hatte, einen Besuch in Schaffhausen. Ich traf auf eine fast 90jährige Frau, die überaus lebendig und fröhlich war. Wir hatten sofort Kontakt zueinander.
Am 5. Juli fand in meinem Garten zum 2. Mal das grosse Familienfest statt. Es gab viele Möglichkeiten für Gespräche, Spiele oder Plausch. Alle fühlten sich sehr wohl.
Die Familie hat für mich eine grosse Bedeutung. Ich finde es wichtig zu wissen, dass ich meinen Platz habe. Im Laufe der 73 Jahre, die ich nun auf der Welt bin, habe ich die Erfahrung gemacht, dass es mir immer wieder gelingt, Menschen zusammen zu bringen. Sei es in meinem privaten Umfeld oder sei es in meinem Beruf als Lehrerin, ich bekam immer wieder die Rolle der Verbinderin.
Das Datum für ein weiteres Familienfest steht schon fest. Ich bin gespannt, wie viele Generationen es schaffen werden, diesmal das Appenzeller Paradies aufzusuchen. Das Haus feierte 2024 seinen 400. Geburtstag: Ein besonderes Jahr für ein besonderes Haus. Die Linde, ein Kraftbaum und Symbol für freie Bauern, ist auch schon über 200 Jahre alt.



3. Mein Garten als Begegnungszentrum
In diesem Jahr bin ich meiner Vision, aus meinem Garten ein Begegnungszentrum zu machen, ein bisschen näher gekommen. Wir hatten mehrere grosse Feste, bei denen sich Menschen näher kennengelernt oder alte Beziehungen aufgefrischt haben.
Am 5. Juli war das oben erwähnte Familienfest. Da ich fast keine direkten Cousins und Kusinen habe, haben wir auch die der 2. Generation eingeladen. Es war ein wunderbares Wiedersehen.
Am 1. August kamen wir zu unserem Nationalfeiertag zusammen. Es war schön, kamen doch auch Jugendfreunde meines Sohnes zu Besuch.
Am 9. August organisierte ich eine Klassenzusammenkunft unserer Maturaklasse. Es kamen nur sehr wenige, aber wir waren doch ein paar alte Kameraden. Erinnerungen wurden aufgefrischt und dadurch auch sehr viel gelacht.



4. Ich lasse meinen Beruf bewusst los
Im Januar meldete ich mich auf einen Aufruf im Mitteilungsblatt des Lehrernetzwerk Schweiz.
Eine Familie aus einem Nachbarort suchte eine Lehrperson für Homeschooling. Während der C-Zeit waren ihre hochsensiblen Kinder nicht in die Schule geschickt worden. Nun suchten die Eltern jemanden, der ihre Kinder behutsam mit dem Lernen vertraut machte und sie auf den Schulunterricht vorbereitete.
Ich begleitete den ältesten Buben. Es war schön, noch einmal ein Kind auf seinem Weg in die Schule zu unterstützen. Und gleichzeitig wurde mir klar: Das ist nicht mehr meine Berufung.
Lehrerin zu sein war für mich über viele Jahre schön, erfüllend und bereichernd. Doch nun durfte ich spüren, dass sich meine Aufgabe verändert hat.
Heute begleite ich Betreuungspersonen von hochsensiblen Kindern. Ich habe einen Kurs für Grossmütter kreiert, illustriere Kinderbücher für hochsensible Kinder und filze Mutmachzwerge und Märchenfiguren.
Danke, dass ich über 30 Jahre lang Lehrerin sein durfte und mehr als 300 Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen konnte.
Danke, Ueli, dass du mir gezeigt hast, dass ich jetzt loslassen darf, damit Neues entstehen kann.
5. Was aus dem Loslassen entstanden ist
In diesem Jahr habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr mit Kindern arbeiten möchte. Ich werde schneller müde und kann der Schnelligkeit der Kinder nicht mehr immer folgen. Diese Einsicht war nicht einfach, aber ehrlich.
Gleichzeitig spüre ich sehr klar, dass mein Wissen und meine Erfahrung weitergegeben werden wollen. Nicht im direkten Arbeiten mit Kindern, sondern mit jenen, die sie begleiten.
So entstand der Kurs für Grossmütter von (hoch)sensiblen Kindern. Grossmütter haben in der Familie eine besondere Stellung. Sie sind nicht so nah dran wie die Eltern und sehen Vieles aus einer anderen Warte. Manchmal brauchen die Kinder genau das: einen Menschen, der zuhört, ohne zu drängen. Selbstverständlich sind auch Grossväter willkommen.
In dem sechs Wochen dauernden Kurs begleite ich die Grossmütter dabei, Hochsensibilität besser zu verstehen und neue Reaktionsmöglichkeiten zu entdecken. Oft braucht es nur kleine Veränderungen - und die Wirkung ist gross.
Ich kenne den Schmerz, nicht verstanden zu werden. Ich kenne das Gefühl, allein zu sein mit einer Wahrnehmung, die mehr aufnimmt als andere. Viele Kinder werden auffällig und früh therapiert. Das müsste nicht sein, wenn sie verstanden würden.
Hochsensibilität ist keine Krankheit. Sie ist eine Begabung, ein Geschenk - und sie zeigt sich bei jedem Menschen anders. Betreuungspersonen sind dazu da, diese Kinder zu stärken, nicht sie zu pathologisieren.
6. Lernen, Brauchtum und Abschied
Im Mai war das Jahrgangstreffen im Ochsen. Alle paar Jahre treffen wir aus dem gleichen Jahrgang uns zu einer kleinen Wanderung inklusive frühen Abendessen auf dem Sitz. Es ist schön zu sehen, wie gut es uns doch geht. Es gibt Darbietungen und es wird erzählt. Auch hier habe ich das Gefühl, ich gehöre dazu.
Beim Jahreswechsel haben wir einen wunderschönen Brauch: die Schuppel kommen an jedem Hof vorbei und läuten das alte Jahr aus und das Neue Jahr ein. Dazu wird gejodelt bzw. "gezäuerlet" und die schweren Glocken geschwungen. Im Kanton Appenzell wird der Übergang des Jahres zwei Mal gefeiert: Nach dem alten, julianischen und nach dem neuen, gregorianischen Kalender. Der alte Silvester ist am 13. Januar.
Am 11. August begann mein Zeichnungskurs bei Matto (Andreas Tschudin) im Montafon. Matto ist ein bekannter Schweizer Cartoon-Künstler. Da ich die Geschichten aus meinem Buch "Papa, ich kann nicht schlafen" als Bilderbücher herausgeben und selbst illustrieren will, dünkte mich ein Kurs bei Matto sinnvoll. Nach einer Woche habe ich natürlich den Jahreskurs gebucht. So gehe ich jeden Monat zu ihm ins Atelier und lerne etwas Neues.
Während dem Wochenkurs im Montafon fuhr ich jeden Tag nach Hause. Dort wartete meine 22 Jahre alte Katze Helga auf mich. Sie war gebrechlich, aber gesund und freute sich, wenn ich kam. Nach dem Kurs gab es ein intensives Wiedersehen, und Helga starb in der gleichen Nacht. Sie zeigte mir mit ihrem Verhalten immer wieder, was ich verändern konnte. Danke Helga.
Zwei Wochen später bekam ich die Nachricht, dass zwei junge Kätzchen dringend ein neues Zuhause suchten. Sie bringen Leben in meinen Alltag, sind wie kleine Kinder und ich habe schon lange nicht mehr so viel gelacht, wie in den letzten drei Monaten.


7. Mein Fazit 2025
2025 war für mich ein Jahr des bewussten Loslassens.
Nicht alles war leicht, manches tat weh – und doch habe ich erfahren, dass Loslassen Raum schafft.
Ich bin dankbar für die Wege, die sich geschlossen haben, und für jene, die sich leise neu geöffnet haben.
Für Begegnungen, für Abschiede und für das Vertrauen, dass nichts verloren geht, was wirklich zu mir gehört.
Dieser Rückblick ist kein Schlusspunkt, sondern eine Momentaufnahme.
Manche Erkenntnisse dürfen noch reifen.
Loslassen heisst für mich heute nicht Abschied – sondern Weitergehen in anderer Form.
