Ausgangssituation
Immer wieder schaute ich auf die Uhr. Es war schon fast halb zwei und Stefan war immer noch nicht zu Hause. Meine beiden anderen Kinder hatten schon lange zu Mittag gegessen und machten sich bald bereit für die Nachmittagsschule. Ich war fast krank vor Sorge. Im letzten Sommer waren in unserer Gegend innerhalb von vier Wochen fünf Kinder verschwunden. Eines hatte am gleichen Tag wie Stefan Geburtstag und war nur ein Jahr älter. Ich hatte wahnsinnige Angst, dass ihm etwas passiert sein könnte.
Da geht die Tür auf und mein Sohn kommt herein. Ganz nass und völlig durchgefroren.
“Mami, nicht schimpfen…es war einfach nur schön”.
So entrückt und verträumt habe ich meinen Sohn schon lange nicht mehr gesehen. Ich dränge meinen Ärger zurück und höre zu.
“Weisst du, dort, auf dem Heimweg, beim Rübenfeld, da hat der Schnee so wunderbar geglitzert. Überall funkelte es und alles war so unberührt. Ich musste mich einfach hinlegen. Ich habe mich einfach auf den Schnee gelegt, die Augen zugemacht und gelauscht. Es war so still, friedlich und ruhig.
Ich machte einen Schnee - Engel und schaute dann in den Himmel. Es waren so schöne Wolken. Sie zogen weg und es kamen neue. Sei nicht böse, es war doch so schön.”
Innerlich zähle ich auf fünf, schlucke ein paar Mal und schlage dann vor, dass er sich schnell umzieht, während ich ihm das Mittagessen wärme. Ich bin sogar bereit, alle unsere Kinder mit dem Auto zur Schule zu fahren.
Meine Gedanken
Hochsensibel sein heisst intensiv und viel wahrnehmen
Dass Stefan hochsensibel ist, wussten wir nicht. Diesen Begriff gab es damals noch nicht. Dass er ein besonderes Kind war, das zeigte sich immer wieder besonders bei solchen Erlebnissen, in denen er die Welt um sich herum völlig vergass. Das war aber nicht das Einzige: er konnte nicht nur die Schönheit der Natur intensiv erleben. Er war auch schnell überwältigt und überfordert von all den Reizen, die ihm immer wieder begegneten. Um dem Stress in der Schule zu entfliehen, suchte er sich regelmässig einen Heimweg, auf dem er alleine war und abschalten konnte. Er fühlte sich von seinen Kameraden immer wieder unverstanden und wurde oft ausgelacht, weil er sich mit Dingen beschäftigte, die andere nicht verstanden. Für uns als Eltern war es eine grosse Herausforderung, ihn im Alltag zu unterstützen, ohne ihn zu überfordern oder seine Feinfühligkeit zu unterdrücken.
Reizüberflutung
Hochsensible Kinder wie Stefan werden ab und zu von einer Reizüberflutung richtig überrollt. Leider nehmen sie eben nicht nur schöne Reize intensiver wahr. Lärm, Hektik und emotionale Spannungen wie z.B. "dicke Luft" machen ihnen schnell zu schaffen. Das kann neben Angst und Stress auch zu körperlichen Reaktionen führen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Wir als Eltern oder Lehrpersonen haben die Aufgabe, für solche Kinder ein Umfeld zu schaffen, wo sie sich sicher, verstanden und angenommen fühlen. Dazu gehören auch Rückzugsmöglichkeiten, wo sie sich während des Tages entspannen und ausruhen können.
Meine drei Kinder sind alle hochsensibel, jedoch in völlig verschiedenen Erscheinungsformen. Die Bedeutung einer unvoreingenommenen Kommunikation war uns als Eltern sehr wichtig. Die vielen Gespräche in der Familie haben allen geholfen, die eigenen Gefühle besser zu verstehen und auszudrücken. So konnten wir unseren Kindern geben, was sie brauchten.
Hochsensible Kinder geben Zeichen
Mit der Zeit habe ich gelernt, die Zeichen zu verstehen, wann Stefan überfordert war. Auch als Lehrerin waren mir solche Zeichen eine grosse Hilfe. Die hochsensiblen Kinder waren wie Seismographen für mich. Wenn sie unruhig wurden, wusste ich, dass ich etwas verändern musste. Meistens haben wir dann mehrere Lieder gesungen, so dass wir nachher wieder konzentriert arbeiten konnten. Oft zeigt sich die Tendenz zur Überforderung in einer körperlichen Unruhe. In einer solchen Situation Druck zu machen ist eher kontraproduktiv. Meistens hilft es sofort, wenn Raum und Zeit zur Entspannung geschaffen wird.
Individuelle Förderung
Wichtig war mir bei meinen eigenen Kindern und auch in der Schule die Förderung der Stärken der Kinder. Hochsensible Kinder sind oft sehr kreativ und einfühlsam. Sie können sich in besonderem Masse in andere Menschen hineinversetzen und haben grosses Verständnis für deren Gefühle. Dieses "Faible" zu fördern bereichert nicht nur den Familienalltag. Nein, es fördert den Gemeinschaftssinn auch in der Schule.
Ich habe als Kind gelernt, dass ich an meinen Schwächen arbeiten muss, damit diese kleiner werden und wenn möglich verschwinden. An etwas zu arbeiten, das ich sowieso nicht so gut kann, nimmt mir die Motivation und schwächt mein Selbstbewusstsein. Kann ich aber meine Stärken ausbauen, dann wächst meine Motivation, etwas Neues dazu zu lernen.
Abschliessend
Ich möchte andere Eltern ermutigen, die Hochsensibilität ihres Kindes als Geschenk zu sehen. Natürlich kann die Situation oft sehr mühsam werden und es braucht dann viel Geduld. Doch mit Liebe und ein bisschen Kreativität können wir unseren hochsensiblen Kindern helfen, ihr Leben leichter zu meistern. Die tiefe Verbundenheit, die aus diesem Verständnis entstehen kann, ist unbezahlbar.
Mein Wunsch als Mutter und Lehrperson war immer, unsere hochsensiblen Kinder zu unterstützen, so dass sie sich in ihren einzigartigen Fähigkeiten entfalten können.
Hochsensible Kinder können Reize nicht filtern. Sie nehmen jedes Gefühl und jede Emotion in ihrer vollen Wirkung aus ihrer Umgebung auf. Wenn man aber nicht lernt, sich abzugrenzen und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, kann dieselbe Fähigkeit zu einer grossen Belastung werden. In einer Welt wie heute, die ständig in Bewegung ist und wo unsere Sinne oft überreizt werden, kann uns eine solche Gabe schnell zu viel werden. Es ist daher überaus wichtig, dass wir für die hochsensiblen Kinder eine Umgebung schaffen, die gleichzeitig Anregung und Entspannung möglich macht, wodurch diese Fähigkeit ein grosses Geschenk werden kann.