Ausgangssituation
Mit meinen Zweitklässlern begann ich Theater zu spielen. Wir hatten ein Stück mit dem Namen ”Hadschibogutumba”. Ich gab lediglich eine ganz kleine Rahmenhandlung vor und den Rest der Geschichte erarbeiteten wir gemeinsam. Jedes Kind hatte so die Möglichkeit, seine Wunschrolle selbst zu erfinden, zu gestalten und mir danach zur Bestätigung vorzulegen. Das motivierte vor allem die hochsensiblen Kinder, ihre Kreativität sichtbar zu machen. Als es dann um die definitive Rollenverteilung ging, kam Matthias mit einem besonderen Wunsch zu mir.
“Frau Müller, ich möchte die Hauptrolle haben und Geige spielen.” Selbstbewusst stand er da und schaute mir in die Augen. “Ja, seit wann spielst du denn Geige?” fragte ich verwundert. “Seit drei Monaten und ich spiele schon drei Töne.”
Hochsensible Menschen sind lösungsorientiert
Es war nicht meine Art, einfach “Nein” zu sagen, und ich versprach ihm, mir eine Lösung zu überlegen. Ich fragte eine Freundin von mir, die Klavierlehrerin war, ob es für den Wunsch von Matthias eine Lösung gäbe. Sie erklärte sich bereit, Matthias auf dem Klavier zu begleiten und ein Stück auszuwählen, in dem er immer wieder seine drei Töne spielen konnte. Wir wurden bei Mozarts A-dur Sinfonie fündig. Matthias spielte seine drei Töne mit der Geige und sie begleitete ihn dabei mit verschiedensten Improvisationen.
Es war für mich sehr eindrücklich, mit welcher Hingabe dieser kleine Bub seine selbst gewählte Aufgabe erfüllte. Er führte seine Kameraden mit den drei Tönen durch das ganze Stück und erlöste mit seiner Musik einen grossen Drachen von einem bösen Zauber.
Meine Gedanken
Hochsensible Kinder wissen, was sie brauchen
Ich animierte meine Schüler dazu, sich ihre Rolle selbst zu wählen. Dadurch bekamen sie die Möglichkeit, ihre eigenen Fähigkeiten einzusetzen ohne äussere Beeinflussung. Es waren damals 32 Schüler in dieser Klasse und ich musste einen Rahmen setzen, der für mich durchführbar war. So konnten sich auch Gruppen bilden, die etwas zusammen einstudierten.
Für Matthias war es mir wichtig, dass er seinen grossen Wunsch verwirklichen konnte. In der Geigenstunde übte er die Musik, die er spielte, denn je nach Szene musste er seine Musik auch im Gehen spielen können. Das war sehr anspruchsvoll, doch er löste seine Aufgabe wunderbar.
Matthias hatte einen grossen Anspruch an sich selber, war intelligent und fleissig. Und er hatte einen grossen Wunsch: Er wollte Musik machen. Eigentlich wäre es logisch gewesen, ihm zu zeigen, dass sein Wunsch nicht durchführbar war. Es hätte genug Gründe dafür gegeben.
Motivation macht Mut
Ich sah es als meine Hauptaufgabe an, die Kinder zu motivieren. Lernen soll Freude machen, Neugierde soll geweckt werden. Wer motiviert ist, der überwindet auch Schwierigkeiten. Heutzutage fehlt den Kindern oft die Unterstützung und Motivation, die eigenen Kräfte zu aktivieren. Mich hat es immer wieder gereizt, unmöglich erscheinende Dinge möglich zu machen. Ich habe immer wieder erlebt, dass hochsensible Kinder, die “selbst-bewusst” sind, scheinbar unmögliche Dinge erreicht haben, weil sie über sich selbst hinaus gewachsen sind und Vertrauen von aussen bekamen. Dann hörte ich: “Siehst du? Ich hab es doch geschafft!”
P.S. Matthias ist heute 38 Jahre alt, von Beruf Schauspieler und im Showbusiness tätig.
Dass ich mich entschieden hatte, Matthias die Hauptrolle zu geben, war ein Experiment und ein Sprung ins kalte Wasser. Ich wusste, dass er fleissig und auch ziemlich ehrgeizig war. Er wollte unbedingt zeigen, was er gelernt hatte. Mit meiner eigenen Hochsensibilität spürte ich genau, dass ich ihn fordern und so auch fördern konnte. Ich hatte ein tiefes Vertrauen in seine Fähigkeiten und glaubte daran, dass er über sich hinaus wachsen konnte. Ein wesentlicher Aspekt in der pädagogischen Arbeit ist es, das Potential in jedem Kind zu sehen und es unabhängig von organisatorischen Grenzen zu fördern.
Die Kraft der Ermutigung und der Glaube an die Möglichkeiten eines Kindes sind so wichtig. Die Geschichte von Matthias, der ja “nur” drei Töne spielen konnte, macht verschiedene Aspekte deutlich im Umgang mit hochsensiblen Kindern und in der pädagogischen Arbeit allgemein.
Kreativität in der kindlichen Entwicklung
Alle Kinder sind kreativ. Es liegt in der Natur des Kindes, seine Gedanken und Gefühle auf irgendeine kreative Art zum Ausdruck zu bringen. Kreativität ist ein sehr wichtiges Werkzeug beim Lösen von Problemen. Auch die Entwicklung und das Erlangen von sozialen Kompetenzen erfordert Kreativität. Ich war immer wieder beeindruckt, wie schnell Kinder lernen, sich in andere hineinzuversetzen, indem wir uns mit Theater, Musik oder Kunst im Allgemeinen beschäftigten. Auch bei der Arbeit in einer Gruppe ist Kreativität gefragt oder beim Umgang mit Frustration, wenn etwas nicht auf Anhieb gelingt.
Die Geschichte von Matthias zeigt, wie wichtig die individuelle Förderung für die Selbstverwirklichung der Kinder ist. Es ist wichtig, dass wir sie in ihren Träumen und Wünschen unterstützen, auch wenn diese zunächst einmal als unerreichbar erscheinen. Wenn wir den Kindern als Lehrpersonen den Raum geben, ihre eigenen Interessen und Leidenschaften zu erforschen, stärken wir ihr Selbstvertrauen. Dies ist besonders bei hochsensiblen Kindern bedeutsam. Diese haben eine Motivation, die von innen kommt und möchten sich mit Dingen auseinandersetzen, die sie wirklich interessieren. Dies bedeutet für die Lehrpersonen eindeutig mehr Arbeit. Wenn man aber bedenkt, dass ein solches Kind durch seine innere Motivation sehr gestärkt wird, zahlt sich diese Mehrarbeit aus.
Praktische Tipps für Eltern und Lehrkräfte von hochsensiblen Kindern:
- 1. Erkennen und Unterstützen der individuellen Talente: Nehmen Sie die Wünsche und Träume Ihres Kindes ernst und unterstützen Sie es dabei, seine Interessen zu erkunden. Jedes Kind hat einzigartige Fähigkeiten und Interessen. Es ist wichtig, diese zu erkennen und zu fördern. Manchmal liegen diese Interessen auch ausserhalb des schulischen Bildungsbereiches. Indem Matthias und seine Mitschüler ihre Rollen selbst erfinden und gestalten durften, wurden ihre kreative Ausdruckskraft, ihre Sprachkompetenz und ihre Selbstständigkeit gefördert. Dieser pädagogische Ansatz hilft Kindern, ihre individuellen Talente und Interessen zu erfahren, zu erforschen und zu entwickeln.
- 2. Schaffen von Gelegenheiten zur Selbstentfaltung: Kinder sollten sowohl zuhause als auch in der Schule die Möglichkeit haben, sich kreativ auszudrücken. Dies wird ihnen ermöglicht, indem sie an eigenen kleinen Projekten arbeiten und diese auch zeigen dürfen. Ermöglichen Sie Ihrem Kind den Zugang zu verschiedenen Formen der Kunst und Musik. Diese können wichtige Kanäle für Selbstausdruck und emotionale Verarbeitung sein. Kunst fördert nicht nur die kognitive und emotionale Entwicklung. Sie kann auch als therapeutisches Mittel dienen, insbesondere bei hochsensiblen Kindern. Die Erfahrung mit Matthias und seiner Geige in Kombination mit Mozarts A-Dur Sinfonie zeigt, wie Musik und Kunst dazu beitragen können, Kinder zu inspirieren und ihren Selbstaudruck zu fördern.
- 3. Förderung der Ausdauer: Werden die Kinder bei der Überwindung von Hindernissen von Seiten der Eltern oder Lehrpersonen unterstützt, wird ihre Ausdauer gestärkt. Durch das Feiern von Erfolgen wird das Durchhaltevermögen der Kinder enorm grösser.
- 4. Vermittlung von Wertschätzung für Kreativität und Eigeninitiative: Wenn Kinder lernen, dass ihre Initiative und ihr kreativer Ausdruck geschätzt werden, können sie ein starkes Selbstbewusstsein entwickeln. Ihre Bereitschaft, sich Herausforderungen zu stellen, wächst.
Die Geschichte von Matthias und dem Theater “Hadschibogutumba” ist mehr als nur eine kleine Anekdote aus meinem Schulalltag. Sie ist ein Beispiel dafür, zu zeigen, wie wenig es doch braucht, scheinbar Unmögliches möglich zu machen. Mit den wenigen Hilfsmitteln Vertrauen, Kreativität und individueller Förderung wurde diesem Kind der Weg zur eigenen Kreativität geebnet. Sein Weg vom Zweitklässler, der “nur” drei Töne auf der Geige spielen konnte, über den jugendlichen Darsteller im Kinofilm bis zum professionellen Schauspieler und künstlerischen Leiter ist eine Inspiration für uns alle. Sie zeigt, dass es sich lohnt, auch ungewöhnliche Wege im Schulalltag zu gehen. Wir Lehrpersonen können in die Träume und Talente der uns anvertrauten Kinder investieren und sie auf ihrem Weg zur Selbstverwirklichung unterstützen.
Unsere Welt ist immer mehr geprägt von zunehmendem Leistungsdruck und standardisierten Bildungswegen. Da wird es umso wichtiger, individuelle Bildungswege zu erkennen und zu fördern. Vor allem wir Lehrpersonen auf den unteren Stufen können den Kindern helfen, zu selbstbewussten und kreativen Persönlichkeiten heranzuwachsen. Es braucht dazu lediglich die Fähigkeit und den Willen, die Einzigartigkeit jedes Kindes zu sehen, zu schätzen und zu unterstützen.
Abschliessend
Die Erfahrung mit Matthias bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass es von grosser Bedeutung ist, Kinder in ihren Wünschen und Träumen zu unterstützen. Es ist wichtig, ihnen die Freiheit zu geben, ihre eigenen Interessen und Fähigkeiten zu entdecken. Ich förderte die Kreativität und Selbstständigkeit von Matthias und seinen Klassenkameraden, indem ich ihnen erlaubte, ihre Rollen selbst zu gestalten. Die Entschlossenheit dieses kleinen Buben, sein Fleiss und der Wille, seine Musik auch im Gehen spielen zu können, zeigten seinen Ehrgeiz und den grossen Anspruch an sich selbst. Es wäre einfach gewesen, ihm zu erklären, dass sein Wunsch unerfüllbar ist. Ich sah es jedoch als meine Hauptaufgabe an, meine Schüler zu motivieren und ihre Neugierde zu wecken.
Ich machte immer wieder die Erfahrung, dass hochsensible Kinder, die selbstbewusst sind und Vertrauen von aussen erhalten, das scheinbar Unmögliche erreichen können. Sie wachsen oft über sich hinaus. Matthias arbeitet heute mit 38 Jahren als Schauspieler und künstlerischer Leiter eines renommierten Theaters. Seine Geschichte zeigt, dass es für die Entwicklung eines jeden Kindes eminent wichtig und entscheidend ist, die Förderung von Individualität, Kreativität und Selbstentfaltung zuzulassen. Eltern und Lehrkräfte sollten die einzigartigen Interessen und Talente jedes Kindes erkennen und unterstützen. Sie sollten ihnen helfen, über sich hinauszuwachsen und ihr volles Potential zu entfalten.
In der gleichen Klasse war auch Anita. Ihre Geschichte beschreibe ich in "Anita redet nur mit Kindern"