Isabella und der Sack vom Samichlaus – Eine Geschichte von Neugierde und Mut

Ausgangssituation

Kommt er oder kommt er nicht?

Es war der 6. Dezember. Schon von weitem hörte man ein Glöckchen läuten. Wir alle warteten gespannt. Kommt er zu uns oder geht er in eine andere Klasse? Da polterte es laut an der Türe. Bevor wir sie öffnen konnten, ging sie wie von selbst auf und herein kam der prächtigste Samichlaus (Nikolaus), den du dir vorstellen kannst. Er trug ein rotes Gewand mit einer schönen, grossen Kapuze. Sein langer, wallender Bart war weiss und reichte ihm fast bis zum Gürtel. Auf dem Rücken trug er einen grossen Sack, der wahrscheinlich mit vielen guten Sachen gefüllt war.

Der Samichlaus begrüsste uns mit seiner dunklen lauten Stimme. Schnell machten wir für ihn einen Stuhl frei. Ja, er sei schon ein bisschen müde, sagte er und setzte sich dankend. Dann holte er sein grosses goldenes Buch hervor und redete mit jedem Kind über seine Schulerfahrungen im letzten Jahr. Es war ein lieber Samichlaus, der jedes Kind ermunterte, fleissig zu sein. 

Hochsensible Kinder nehmen viel wahr und passen genau auf

Isabella war ein kleines Mädchen mit relativ zarter Statur. Sie hatte manchmal ein ziemlich lockeres Mundwerk und wollte gerne alles wissen, was um sie herum passierte. Wahrscheinlich deshalb beobachtete sie ihre Umgebung sehr genau. Als der Samichlaus mit ihr redete, sagte sie plötzlich zu ihm: “Du Samichlaus, weisst du eigentlich, dass du ein Loch in deinem Sack hast? Und schau mal, da ist es auch noch ganz dünn. Da gibt es bald auch eines. Du musst aufpassen, dass deine Sachen da nicht herausfallen.” Betretene Stille. Auch der Samichlaus war still. Er schaute sich das Loch an, schluckte ein paar Mal und bedankte sich dann bei Isabella für ihren gut gemeinten Rat. 

Neugierde hat ihre Konsequenzen

Es ging nicht mehr lange und er leerte den Sack aus auf ein grosses Tuch. Dann legte er ihn sorgfältig zusammen und rief Isabella noch einmal zu sich. “Du hast mich so schön aufmerksam gemacht, dass da ein Loch drin ist. Ich wäre froh, wenn du mir dieses Loch flicken könntest. Dann muss ich keine Angst mehr haben, dass ich etwas verliere.” Damit drückte er Isabella den zusammengelegten Sack in die Hand und verabschiedete sich von uns. 

Isabella war die letzte von den Kindern, die nach Hause gingen. Ziemlich verzweifelt fragte sie mich, was sie denn nun tun sollte. Sie konnte doch nicht nähen und hatte Angst, dass sie etwas falsch machen könnte. Sie war den Tränen nahe. Ich tröstete sie und versicherte ihr, dass sie Hilfe bekommt. Dann rief ich ihre Mutter an und orientierte sie über den Vorfall. Die Mutter amüsierte sich über ihre vorlaute Tochter und versprach mir, Isabella zu helfen.

Ein paar Tage später kam Isabella strahlend zu mir. Sie streckte mir den Sack entgegen, den sie mit ihrer Mutter zusammen geflickt hatte. Mitten auf dem Sack prangte ein grosses, hellblau-weiss kariertes Herz. Was für eine schöne Idee! Zusammen legten wir am Abend nach der Schule den Sack vor das Fenster. “Wenn wir Glück haben, nimmt ihn der Samichlaus gleich mit”, sagte ich zu Isabella. Welch leuchtende Kinderaugen, als der Sack am nächsten Morgen tatsächlich nicht mehr vor dem Fenster lag!

Meine Gedanken

Dass Isabella hochsensibel sein könnte, wusste ich damals nicht. Dieser Begriff wurde erst Anfang des neuen Jahrtausends bei uns bekannt. Für mich war Isabella mit ihren Gedanken und Ideen ein Kind, das mir viel Freude bereitete. Allerdings musste ich ihr auch klar meine Grenzen zeigen, die sie oft ausreizte. Ihre Neugierde, alles wissen zu müssen, war manchmal auch unangenehm. 

Der 6. Dezember war in meiner Klasse immer ein besonderer Tag. Er war erfüllt mit Vorfreude und Spannung. Als der Samichlaus mit seinem prächtigen, roten Gewand und dem grossen, geheimnisvollen Sack unser Klassenzimmer betrat, konnte man die Aufregung beinahe greifen. Mit seinem langen weissen Bart und seiner dunklen Stimme war er eine beeindruckende Erscheinung. Er brachte die Augen der Kinder zum Leuchten und es entstand eine Atmosphäre der Wärme und des Wohlwollens.

Naseweis und doch respektvoll

Isabella, das kleine Mädchen mit der zarten Statur und dem lebhaften Geist, war bekannt für ihr ausgeprägtes Interesse an ihrer Umgebung. Ihre aufmerksame Art liess sie Dinge bemerken, die anderen oft entgingen. So auch das kleine Loch im Sack des Samichlaus, das sie mutig ansprach. Der entstandene Moment der Stille schlug schnell in Bewunderung um, als der Samichlaus Isabellas respektvolle und hilfsbereite Art würdigte. Ihre Beobachtungsgabe war ein klares Zeichen für ihre grosse Wahrnehmungsfähigkeit, die man oft bei hochsensiblen Kindern findet. Diese nehmen nicht nur mehr von ihrer Umwelt wahr, sondern zeigen auch eine besondere Empathie für die Bedürfnisse anderer. Ihre Fähigkeit, das Loch im Sack des Samichlaus zu bemerken, war nicht nur ein Zeichen von Aufmerksamkeit. Es war Fürsorge und Respekt dem gegenüber, was der Samichlaus für die Kinder bedeutete.

Isabella übernimmt Verantwortung

Der Samichlaus leerte den Sack aus und gab Isabella den Flickauftrag. Das zeigt, dass er bereit war, Isabella in die Verantwortung zu nehmen und ihr zu vertrauen, dass sie ihre Aufgabe erfüllen konnte. Die Tage, die auf den Besuch des Samichlaus folgten, waren für Isabella Tage des Lernens und Wachsens. Sie lernte nicht nur, wie man näht. Nein, sie lernte auch, dass  ihre Handlungen Konsequenzen haben und dass es wichtig ist, die Verantwortung für diese zu übernehmen. 

Isabellas Geschichte ist ein Spiegelbild der komplexen Welt eines hochsensiblen Kindes. Sie zeigt, wie wichtig es ist, diesen Kindern besondere Aufmerksamkeit und Förderung zukommen zu lassen. Nur so können sie ihre aussergewöhnlichen und originellen Talente und Fähigkeiten voll entfalten.

Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus ist gefragt

Kinder brauchen Gelegenheiten, ihre Fähigkeiten auszuprobieren und einzusetzen. Für Eltern und Lehrkräfte ist es deswegen wichtig, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich diese Kinder sicher und verstanden fühlen. Die Zusammenarbeit zwischen Schule und Familie darf man nicht unterschätzen. Die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus gaben Isabella Zuversicht, dass sie die Aufgabe schaffen kann. Ihr Stolz war denn auch entsprechend gross. Die gemeinsame Anstrengung beim Flicken des Sackes zeigte Isabella auch, dass sie auf die Unterstützung ihrer Familie zählen kann, wenn sie vor Herausforderungen steht.

High Sensation Seeker

Gleichzeitig ist es genauso wichtig, dass Isabella lernt, Grenzen zu erkennen, zu verstehen und zu respektieren, ohne die Neugier und den Drang, die Welt zu entdecken, zu unterdrücken. Isabella ist heute eine junge Frau, die ihre Grenzen im Sport kontinuierlich erweitert. Bei ihr könnte dieser Drang, die Welt zu entdecken, auch als “High Sensation Seeker" interpretiert werden - jemand, der ständig nach neuen Erfahrungen sucht, sowohl physisch als auch emotional. Das zeigt auch, wie wichtig die frühe Erkennung von persönlichen Stärken ist. Bildung ist eine ganzheitliche Aufgabe, die darauf abzielen sollte, jedes Kind in seiner Ganzheit zu sehen und zu fördern.

Über die Autorin

Antonia Müller

Ich heisse Antonia Müller. Ich wohne in der Ostschweiz in der Nähe von St.Gallen und dem Bodensee. Ich selber wie auch meine Kinder sind hochsensibel. Als Lehrerin habe ich über dreissig Jahre mit hochsensiblen Kindern gearbeitet. Es ist mir ein Herzensanliegen, dass Kinder unbeschwert und ohne Druck aufwachsen dürfen. Hochsensible Kinder haben ein Anrecht darauf zu lernen, wie sie ihre Gabe der Hochsensibilität sinnvoll und kreativ in ihr Leben integrieren können.

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