Ausgangssituation
Ich hüte meine Enkelkinder einmal pro Woche und war auch gestern wieder bei Leila und Valentin. Als ich am Mittagessen kochen bin, springt plötzlich die Türe auf und ich höre eine leise Stimme sagen: Ich bin sooo verliebt!
Ich weiss gerade nicht so recht, ob ich jetzt reagieren darf und gehe vorsichtig nachschauen.
Die sechsjährige Leila sitzt auf dem Schuhbänklein, springt auf , als sie mich sieht, umarmt mich und strahlt. “Grosi, ich bin soooo verliebt. Es ist sooo meeega schschööön!”
Ich bin sehr gerührt, dass sie dieses starke Gefühl ausgerechnet mit mir teilt und frage sie, wer denn der glückliche sei. “Weisst du, er heisst Levin aus meinem Kindergarten und wir haben heute Morgen abgemacht, dass wir verliebt sind. Und es ist im Fall meega stark!”
Leilas älterer Bruder Valentin kommt kurze Zeit später auch nach Hause und trifft uns in einer besonderen, glücklichen und nicht ganz alltäglichen Stimmung an. Neugierig fragt er: “Was ist denn mit euch los?” Ich verkünde Valentin die Neuigkeit, doch der 8-Jährige reagiert darauf eher gelangweilt. Auf meine Frage hin erklärt er, dieses Thema interessiere ihn nicht sonderlich. Er brauche im Moment keine Freundin.
Leila macht sich schön
Beim Mittagessen hat Leila wenig Hunger. Sie verzieht sich mit der Erklärung nach oben, sie gehe sich jetzt schön machen, für Levin.
Wenig später kommt sie herunter in einem langen rosafarbenen wunderschönen Prinzessinnenkleid. Sie braucht drei Anläufe, bis ihre Garderobe für Levin im Kindergarten stimmt. In ihrem Zimmer ist ein riesiges Chaos.
Leila schnappt sich das Telefon und ruft ihren Levin an. Sie macht mit ihm ab, dass er nach dem Nachmittagskindergarten (bei uns gehen die Kinder vormittags und nachmittags) zu ihr nach Hause kommt. Glücklich geht sie in den KIGA.
Als sie an mir vorbei rauscht, riecht es wie ein blühendes Blumenbeet.
Die grosse Enttäuschung
Nach dem KIGA springt die Türe auf. Ich erwarte zwei lachende lärmende Kinder, doch nichts dergleichen ist da.
Stattdessen steht da eine schluchzende kleine Leila, die die Welt nicht mehr versteht. ”Wir haben doch abgemacht und jetzt kommt er einfach nicht. Ich habe mich doch sooo gefreut! Warum ist er so?”
Nach einigen Fragen stellt sich heraus, dass Levin offenbar ganz dringend nach Hause musste und nachher zu Leila kommen wolle.
Hartnäckig, doch furchtbar traurig fordert sie, dass er es doch versprochen hat und auch einhalten muss. Sie beschliesst, zu ihm nach Hause zu gehen und ihn abzuholen.
Nach einiger Zeit kommt sie erneut schluchzend heim. Die Tränen laufen. Ich versuche ihr zu erklären, dass Levin vielleicht Angst bekommen hat. Leila schaut mich aufmerksam an.
Ich erkläre ihr, dass ich auch schon Angst bekommen habe, weil meine Gefühle so stark waren.
Leilas Mitgefühl
“Der arme Levin!” flüstert sie. Jetzt sind es zwei Gründe, warum sie weinen muss.
Zum einen, weil sie so enttäuscht ist und zum anderen, weil Levin ihr so Leid tut. Ich versuche, sie mit einem Spiel abzulenken.
Als ich eine Woche später wieder bei meinen Enkeln bin, frage ich sie, wie es ihr denn jetzt mit Levin geht und ob sie immer noch verliebt ist. “Nein, wir haben abgemacht, dass wir nicht mehr verliebt sind. Es ist sonst zu kompliziert.”
Meine Gedanken
Leila hatte tiefe Gefühle für ihren Freund Levin. Sie war mächtig enttäuscht, dass dieser nicht zu ihr nach Hause kam, um mit ihr zu spielen. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Das machte sie traurig. Noch trauriger aber machte sie der Gedanke, dass Levin wegen ihr Angst gehabt haben könnte. Das wollte sie auf keinen Fall. Sie wusste, wie sich Angst anfühlt und sie war bereit, ihre eigenen Gefühle der Enttäuschung hinten an zu stellen.Hochsensiblen Menschen passiert das öfters. Sie stellen ihre eigenen Gefühle in Frage, verdrängen sie sogar, wenn es sich um einen geliebten Menschen handelt. Sie vergessen ihre eigenen Bedürfnisse und gehen ganz in dem Gedanken auf, dem anderen zu helfen.
Ist ein solches Verhalten dem hochsensiblen Menschen nicht bewusst und verhält er sich immer wieder so, dann kann für ihn ein seelisches Ungleichgewicht entstehen. Dieses kann sich dann eventuell in schlechter Laune, ständiger Müdigkeit oder sogar in einer Krankheit äussern.
Zum Glück hat Leila schon von klein auf gelernt, ihre Gefühle wahrzunehmen und über sie zu sprechen. Jetzt, in der Pubertät, sucht sie nach Lösungen und neuen Verhaltensmustern, die sie persönlich weiterbringen.
Das Dilemma und emotionale Resilienz
Die Geschichte von Leila zeigt nicht nur Leilas hohe Empathiefähigkeit. Sie zeigt auch das innere Dilemma, das hochsensible Menschen oft erleben, wenn sie zwischen ihren eigenen und den Bedürfnissen anderer wählen müssen. Die Reaktion auf Levins Fernbleiben zeigt deutlich, wie intensiv hochsensible Kinder Gefühle erleben und wie stark diese ihre Handlungen und Entscheidungen beeinflussen können. Diese Kinder reagieren oft auf eine Art und Weise, die ihr tiefes Einfühlungsvermögen und ihre emotionale Reife widerspiegelt. Als Eltern und Lehrpersonen ist es unsere Aufgabe, ihnen zu zeigen, wie sie ihre einzigartigen Fähigkeiten als Stärke nutzen können.
Das Erlernen emotionaler Resilienz kann helfen, Enttäuschungen besser zu verarbeiten. Für hochsensible Kinder ist es enorm wichtig, dass sie Strategien lernen, die ihnen helfen, mit ihren intensiven Gefühlen konstruktiv umzugehen. Diese Strategien werden Coping-Strategien genannt.
Tipps für Eltern hochsensibler Kinder
1. Emotionale Unterstützung: Es ist wichtig, dass Eltern präsent sind, um ihre Kinder in den emotionalen “Hochs” und “Tiefs” zu begleiten. Zuhören und Annehmen, ohne zu bewerten, stehen dabei an erster Stelle. So lernen die Kinder, dass ihre Gefühle “richtig” sind.
2. Kommunikation fördern: Ermutigen Sie Ihr Kind, offen über seine Gefühle zu sprechen. Dies hilft ihm, emotionale Intelligenz zu entwickeln und seine eigenen Reaktionen besser zu verstehen.
3. Strategien zur Entspannung: Bestimmte Übungen können Ihrem Kind helfen, sich zu entspannen, wenn es überwältigt ist. Dies können Atemübungen, Zeit in der Natur oder das Spielen mit einem Haustier sein.
4. Grenzen setzen: Es ist wichtig, dass hochsensible Kinder lernen, ihre eigenen Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Sie sollten ermutigt werden, Nein zu sagen, wenn sie sich unwohl fühlen. Helfen Sie Ihrem Kind, gesunde Grenzen zu setzen. Dies ist besonders wichtig für hochsensible Kinder, die dazu neigen, ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten anderer zurückzustellen.
5.Stärken erkennen und fördern: Erkennen Sie die Stärken Ihres Kindes und fördern Sie diese. Hochsensible Kinder sind oft besonders kreativ, intuitiv und empathisch. Unterstützen Sie diese Fähigkeiten durch passende Aktivitäten und Hobbys.
6. Positive Selbstwahrnehmung fördern: Ermutigen Sie Ihr Kind, seine Stärken zu erkennen und zu schätzen. Dies kann sein Selbstbewusstsein stärken und ihm helfen, sich in herausfordernden Zeiten auf seine Resilienz zu verlassen.
7. Umgang mit Enttäuschung: Lehren Sie Ihr Kind, Enttäuschungen als Teil des Lebens zu sehen. Besprechen Sie, wie man aus solchen Erfahrungen lernen und wachsen kann.
8. Bücher und Geschichten: Bücher und Geschichten können helfen, ähnliche Situationen zu verstehen. Dies kann dazu beitragen, Empathie zu entwickeln und zu sehen, dass andere ähnliche Erfahrungen machen.
Abschliessend
Indem wir hochsensiblen Kindern helfen, ihre Emotionen zu verstehen und zu managen, geben wir ihnen die Werkzeuge an die Hand, die sie benötigen, um gesunde, erfüllte Erwachsene zu werden. Leilas Geschichte bietet nicht nur Einblicke in die tiefen Gefühlswelten hochsensibler Kinder, sondern auch in die Chancen, die in dieser Empfindsamkeit liegen. Durch Unterstützung und Verständnis können diese Kinder lernen, ihre besonderen Gaben zu schätzen und zu nutzen.